Wenn plötzlich die Angst mitfährt

20. Mai 2022

Unsicherheiten beim Autofahren sind keine Seltenheit – oftmals fehlt es Betroffenen an Routine

Jahrelang geht alles gut, und dann das: Plötzlich macht der Tunnel, der Stadtverkehr oder das Tempo auf der Autobahn Angst. Die Obfelder Fahrlehrerin Silvia Trinkler begleitet Menschen dabei, im Auto wieder Sicherheit zu gewinnen.
von Livia Häberling


Als junge Frau ist Vera Meier*, 63, einmal in einen Verkehrsunfall verwickelt. Trotzdem hat sie lange keine Mühe, Auto zu fahren. Bis ihr, Jahre später, auf dem Beifahrersitz das Atmen von Mal zu Mal schwerer fällt. Immer öfter kriegt sie kaum noch Luft. Fast unbemerkt hat sich ein Unbehagen eingeschlichen, und dann ist es einfach nicht mehr weggegangen. Zunächst fängt Vera Meier an, längere Strecken als Beifahrerin zu meiden, sie nimmt öfter den Zug. Wenn sie im Auto von Arbeitskollegen zu einer Retraite oder zu einem Workshop fährt,
verschreibt ihr der Hausarzt Medikamente gegen ihre Angst, mit hohem Tempo aus einer Kurve geschleudert zu werden. Hohes Tempo, das sind für Meier 60 km/h aufwärts, eine Kurve ist jeder Strassenverlauf, der sich leicht wölbt. Ins Büro fährt Vera Meier weiterhin selbst. Wobei dieses zuletzt nur ein paar Dörfer von ihrem Wohnort entfernt liegt. Als sie sich frühzeitig pensionieren lässt, fällt auch diese Strecke weg. Irgendwann besucht sie Freunde im Aargau oder Thurgau lieber mit dem Zug. Dass sie ein Problem hat, ist ihr damals längst klar: «Ich wollte wieder unabhängig sein», sagt Vera Meier rückblickend. «So habe ich beschlossen, etwas gegen die Angst zu unternehmen.»

«Als hätte man einen Schalter umgekippt»

Im Internet, auf der Suche nach Antworten, stösst Vera Meier zunächst auf einen Namen für ihr Problem: «Amaxophobie » – die Angst vor dem Autofahren – und schliesslich auf einen Namen für die Lösung: Silvia Trinkler. Die Obfelderin arbeitet seit 15 Jahren als Fahrlehrerin, hat Hunderte durch die Prüfung gebracht und sagt über ihre Arbeit: «Autos interessieren mich kaum. Spannend sind die Menschen, die in ihnen sitzen.» Silvia Trinkler hat verschiedene Zusatzausbildungen gemacht, unter anderem als Fahrberaterin für Senioren oder als Hypnotiseurin. Im Lauf der Zeit hat sie sich auf Personen mit besonderen Bedürfnissen spezialisiert. Auf Menschen mit einer Hör-, Lese- oder Schreibschwäche, mit Lernschwierigkeiten, Autismus oder Ad(h)s. Und auf Menschen, die Angst haben, durch die Stadt, in einen Tunnel oder eben: mit Tempo durch eine Kurve zu fahren. Am 20. Juli treffen sich Silvia Trinkler und Vera Meier auf dem Parkplatz in Altstetten. Zuvor hat am Telefon ein Vorgespräch stattgefunden. Das Ziel der ersten Fahrstunde: sich gemeinsam an kurvige Strecken ausserorts herantasten. Silvia Trinkler erinnert sich noch gut, wie sie losgefahren sind, wie Vera Meier das Auto souverän durch die Stadt lenkte und dann, als die erste Tempo- 80-Strecke kam, vom Gas wich, das Steuerrad mit ihren Händen immer fester umklammerte und nur noch unregelmässig atmete. Totale Blockade. «Es war, als hätte man in ihr einen Schalter umgekippt.» Es bleibt in ihrer ersten gemeinsamen Fahrstunde nicht die einzige Pause, in der Silvia Trinkler sagt: «Atmen, Vera, Atmen!»

Fehlende Routine – ein Teufelskreis

Hemmungen und Ängste beim Autofahren seien verbreiteter, als man denke, sagt Silvia Trinkler. Meist beginne es mit spezifischem Unbehagen: Der Tunnel löst Unwohlsein aus, der Stadtverkehr scheint unübersichtlich, die Autobahneinfahrt gefährlich. Dieses münde häufig in eine jahrelange Schonhaltung: Man umfährt die Tunnels, die Stadt, die Autobahnen, nimmt mehr und mehr auf dem Beifahrersitz Platz. Man traut sich weniger zu, fühlt sich schneller überfordert, fährt noch weniger und nur noch die gewohnten Strecken, hat Angst. «Ein Teufelskreis», sagt Silvia Trinkler, «der seinen Ursprung häufig nicht in einem schlechten Erlebnis, sondern in fehlender Routine hat.» Gerade weil es Ausweichmöglichkeiten gebe, hätten die Fahrerinnen – fast immer sind es Frauen – oft einen jahrelangen Leidensdruck hinter sich, bevor sie sich bei ihr meldeten, sagt Trinkler. Sich dem Problem zu stellen und das Telefon in die Hand zu nehmen, koste grosse Überwindung. «Eigentlich wollte ich Sie schon längst kontaktieren …», ist ein Satz, den Silvia Trinkler häufig hört.

Eine Vollbremsung mitten auf der Strasse

Wie der Weg zum Ziel aussehen könnte, findet Silvia Trinkler mit jeder Kundin neu heraus. Erste Informationen sammelt sie im Vorgespräch am Telefon, danach tastet sie sich mit jeder Fahrstunde etwas näher heran. Welche Situationen meistert die Schülerin problemlos, wo muss sie sich mehr konzentrieren – und wo verkrampft sie sich, braucht vielleicht sogar Unterstützung? Wie schmal dieser Grat zwischen Unter- und Überforderung manchmal ist, zeigt sich bei Vera Meier nicht nur in der ersten Fahrstunde, als ihr nach der souveränen Stadtfahrt ausserorts fast die Luft wegbleibt. Als sie in den ersten Lektionen Fortschritte macht, traut ihr Silvia Trinkler im August schliesslich die Strecke von Affoltern Richtung Rifferswil zu. Doch im Jonental kommt es zum Eklat: Die Kurven machen Vera Meier so stark zu schaffen, dass Silvia Trinkler einmal aus Sicherheitsgründen ins Lenkrad greifen muss. Vera Meier erlebt diesen Moment als «kompletten Kontrollverlust», wie sie erzählt. Danach steht sie derart neben sich, dass sie mitten auf der Strasse reflexartig eine Vollbremsung macht und nicht mehr weiterfahren kann. Bis Silvia Trinkler das Auto am Strassenrand parkieren und die Situation entschärfen kann, verbringt auch sie bange Sekunden. Danach ist sie verunsichert: «Ich hatte das Gefühl, die Sicherheit nicht mehr hundertprozentig gewährleisten zu können.» Weil sie bis anhin keinen annähernd so heftigen Fall gehabt hatte, vermittelt sie Vera Meier den Kontakt zu einer Verkehrspsychologin.

Atemübungen gegen die Anspannung

Als Vera Meier wieder bei Silvia Trinkler ins Auto steigt, ist es Anfang November. Ein Check beim Hausarzt hat ergeben, dass dem Autofahren aus medizinischer Sicht nichts im Weg steht. Und in den Sitzungen mit der Psychologin ist klar geworden: Der Unfall aus späten Jugendtagen hat bei Vera Meier zwar Spuren, aber kein Trauma hinterlassen. Woran
es liegt, dass die Angst in den letzten Jahren grösser wurde, kann auch die
Spezialistin nicht mit Sicherheit sagen, doch sie weiss, was helfen dürfte, und rät Vera Meier, das Fahrtraining wieder aufzunehmen, um die Routine zu festigen. Zudem zeigt sie ihr, wie sie ihre Atmung mit täglichen Übungen besser kontrollieren und mit der Emotional Freedom Technique die Angst reduzieren kann. Die Fortschritte, die sie nach der Pause bei Vera Meier wahrnimmt, bezeichnet Silvia Trinkler als riesig: «Sie hat regelmässig geatmet und viel ruhiger gewirkt, dadurch konnten wir den Schwierigkeitsgrad im Training zügig erhöhen, ohne dass wir erneut in eine gefährliche Situation hineingeraten sind.»

Wieder Weitsicht gewinnen

Zunächst fahren sie wieder kurze Strecken ausserorts, später kommen Fahrten auf der Autobahn hinzu. Mit der Unterstützung von Silvia Trinkler übt Vera Meier, den Blick auch auf herausfordernden Strecken mehr nach vorne statt auf die nächste Kurve zu richten. So gelingt es ihr, wieder mehr Weitsicht zu gewinnen. Zudem lernt sie zu verinnerlichen, dass auf den Tafeln nicht Mindest-, sondern Höchstgeschwindigkeiten signalisiert werden, dass es okay ist, langsamer zu fahren und vor der Kurve wenn nötig die Geschwindigkeit zu reduzieren – ohne sich ständig im Rückspiegel zu versichern, dass hinter ihr niemand am Schnellerfahren gehindert wird. Auch das Beifahren trainiert Vera Meier regelmässig mit Freunden und Verwandten. Zunächst mit geschlossenen, später mit offenen Augen. Immer konzentriert sie sich dabei auch auf ihre Atmung, und mit jedem Mal fällt es ihr ein bisschen leichter. Im Februar fahren Silvia Trinkler und Vera Meier via Autobahn von Altstetten nach Winterthur und wieder zurück – jene Strecke, die Vera Meier zurücklegt, wenn sie ihre Freunde besucht.
Es ist ihr vorerst letztes gemeinsames Training, inzwischen fühlt sich
Vera Meier wieder sicher genug, um auch Strecken mit höherem Tempo oder mit Kurven alleine zu befahren: «Ich setze mich wieder mit einem deutlich entspannteren Gefühl ins Auto. Es hat mich Überwindung gekostet, das Problem in Angriff zu nehmen und dranzubleiben, selbst wenn es mal harzte», sagt sie, «doch es hat sich gelohnt.»